Scheinbar & Anscheinend - Wortzwillinge

Wörter die die Welt bewegen

Vorrede - Der Schreib- und der Redefehler

„Ich gink bafus durchs grüne Grahs.”

Da gibt es sofort ein Aufmerken: Wörter sehen für mich meistens unmittelbar komisch bis hässlich aus, wenn sie falsch geschrieben sind.

Ich muss nicht nachdenken, es stellt sich sofort ein Befremden ein – dieses Buchstabenmuster ist nicht abgespeichert, ein Direktzugriff in die Speicher der Hirnrinde sagt das sogleich. Ein Schreibfehler fällt auf – ein Redefehler auch.

Ganz ähnlich ist es, wenn ich ein scheinbar höre, wo ich richtigerweise ein anscheinend unterstelle. Das nenne ich einen Redefehler. Mein Vater war es gewesen, der mich in jungen Jahren auf die diffizilen, nein auf die offensichtlichen Bedeutungsunterschiede aufmerksam gemacht hat. Und das hat bis heute Nachwirkungen.

Ein Nachrichtensprecher, ein Journalist, der anscheinend scheinbar und anscheinend nicht auseinander hält? Es rumort dann in mir. Wie kann man die beiden Wörter nur in einen Topf werfen? Da habe ich einem gewissen missionarischen Eifer. Worte müssen stimmen, da ist Wortschlamperei nicht erlaubt, das ist Sprachfrevel, eine Versündigung an der Sprache.

Es gibt Menschen, die haben eine Rechtschreibschwäche. Früher hielt ich das für einen Makel – wie kann man nur! Heute weiß ich, dass da einfach die Neuronen anders verschaltet sind. Offensichtlich gibt es auch so etwas wie eine Redeschwäche, ein Reden mit Schwachstellen.

Nur ganz selten habe ich mein Gegenüber auf den Fehlgebrauch des unscheinbares Wortes hingewiesen. Unverständnis war dann im Gesicht zu sehen, da wurde kein Unterschied heraus gehört, das klänge doch gleich. Nein, es klingt schrecklich falsch. Und der Bedeutungsunterschied der beiden Varianten ist weder diffizil noch marginal. Der Kollege hat sich dann am 09.12.2005 wie folgt beholfen:

Hallo Herr M.,

nichts ist vollkommen. Ich hab' den Herrn V. nicht auf den Verteiler gesetzt.

Könnte ich Sie bitten, darf ich Sie bitten, dem Herrn V. die Email zur vee_Version zu kommen zu lassen?

Besten Dank und …

Habe ich gemacht.

V. ist allerdings scheinbar / anscheinend bis 14.12. out of office.

Ich übrigens auch.

Ein schönes Wochenende ...

Einmal habe ich sogar nachgefragt, als der Paris-Korrespondent der SZ in einem Kommentar schrieb, Chirac hätte scheinbar grenzenloses Vertrauen in den Premier. Die nette und auch präzise Antwort:

Gesendet: Dienstag, 16. Mai 2006 17:53
An: Ragutt, Bernd Dr., MSOP51
Betreff: Gruß aus Paris

Lieber Herr Ragutt,

Chiracs Vertrauen in seinen Premier ist, könnte man meinen, anscheinend grenzenlos. Ich glaube aber, dass der Schein trügt, und dass sich irgendwann erweisen wird, dass sein Vertrauen nur scheinbar grenzenlos war. Dieses wollte ich sagen, nur etwas kürzer.

Schönen Gruß, Gerd Kröncke

Anscheinende Sinnlosigkeit des Scheinbaren - Eine Hilfestellung

„Der hat scheinbar keine Ahnung.”

Wie dissonant das schon klingt, da scheppert es doch. Wenn ein netter Kollege so einen Satz ausspricht, regt sich sofort in mir der Widerspruch, er liegt fast schon auf der Zunge, ich schlucke ihn aber hinunter.

„Der hat nur scheinbar keine Ahnung.”

So, durch ein nur eingeschränkt, wird der gemeinte Sinn sogleich klar: Der tut doch nur so, der gibt bloß vor, dass er keine Ahnung hat. Tatsächlich, ja in Wirklichkeit weiß er Bescheid, der Falschspieler - der sagt doch nichts anderes als die Unwahrheit!

„Der hat anscheinend keine Ahnung.”

So hat es den richtigen Klang, denn dieser Der sollte eigentlich Bescheid wissen, aber, wie es aussieht, hat er wohl doch keine Ahnung — wie es den Anschein hat.

„Die Sonne dreht sich anscheinend um die Erde.”

Ja, es hat den Anschein, als würde sich die Sonne um die Erde drehen. Nichts scheint dagegen zu sprechen — alles sieht danach aus. Vermutlich dreht sich also die Sonne um die Erde.

Wir wissen es aber besser, die Erde kreist wie die anderen Planeten um unsere Sonne. Die obige Aussage ist also unserem Kenntnisstand nach nicht richtig.

„Die Sonne dreht sich scheinbar um die Erde.”

Ja, nur dem Schein nach kreist die Sonne um die Erde, der Schein trügt, denn wir wissen es besser. Die nebenstehende Aussage ist also unserem Kenntnisstand nach richtig.

„Schau, der Vogel da kann nicht richtig auffliegen, er ist anscheinend verletzt.”

Ja, wenn der Vogel am Flügel verletzt wäre, könnte er Schwierigkeiten haben aufzufliegen. Vermutlich ist das Tier also verletzt, aber wir müssten es schon untersuchen, um Gewissheit zu erhalten.

„Schau, der Vogel da kann nicht richtig auffliegen, aber ich weiß, er ist nur scheinbar verletzt.”

Denn der Vogel ist ein Bodenbrüter und er wird sein Nest in der Nähe haben. Wir haben doch gerade eine streunende Katze gesehen, er stellt sich nur verletzt, um sie weg zu locken.

Der Vogel tut doch nur zum Schein so, als wäre er verletzt, er täuscht eine Verletzung vor, um auf diese Weise die Katze vom Nest weg zu locken. Der Vogel ist nicht wirklich verletzt. Und siehe da, nach einer kleinen Weile flog der Vogel einfach davon — wir haben richtig vermutet, es war nur eine vermeintliche Verletzung.

„Obwohl der Vorgesetzte ihn vor der ganzen Mannschaft zur Sau machte, blieb er anscheinend ganz ruhig.”

Ja, ich kenne ihn, er lässt sich durch dieses Arschloch nicht aus der Ruhe bringen und zu dummen Dingen verleiten. Dem Anschein nach blieb er ganz ruhig.

„Obwohl der Vorgesetzte ihn vor der ganzen Mannschaft zur Sau machte, blieb er scheinbar ganz ruhig.”

Ja, er blieb wirklich nur zum Schein ganz ruhig, er täuschte die äußere Ruhe nur vor, innerlich kochte es aber in ihm, ich kenne ihn zu gut.

Der Spielraum, den die Sprache bietet, um den Grad der Gewissheit oder des Zweifels durch ein Attribut aus­zu­drü­cken, ist beträchtlich.

Der Angeklagte schilderte …

… das Tatgeschehen.
… glaubhaft das Tatgeschehen.
… wohl das Tatgeschehen.
… anscheinend das Tatgeschehen.
… vermutlich das Tatgeschehen.
… vielleicht das Tatgeschehen.
… vermeintlich das Tatgeschehen.
… scheinbar das Tatgeschehen.
… angeblich das Tatgeschehen.
… vorgeblich das Tatgeschehen.
… nicht wirklich das Tatgeschehen.
… vermutlich nicht das Tatgeschehen.
… kaum glaubhaft das Tatgeschehen.
… nicht glaubhaft das Tatgeschehen.
… wohl nicht das Tatgeschehen.
… nicht das Tatgeschehen. 

Rahdt zum Redefehler

Meinem Gefühl nach sind in der mündlichen Rede Situationen wesentlich häufiger, in denen ein anscheinend angemessen ist, ein sauber gebrauchtes scheinbar ist eher die Ausnahme. Das spricht als Voreinstellung erst einmal für ein anscheinend.

Stolpern Sie über das ungleiche Zwillingspaar scheinbar und anscheinend, sagen Sie laut und mit Empörung: „Wie kann ich nur!” und verwenden einfach das Stolperwörtchen scheinbar nur in Verbindung mit einem nur - und merken Sie sich bitte:

«Anscheinend und scheinbar sind nur scheinbar synonym,
sind keine eben sinnverwandte Wörter.»

Für die Diktion denke ich hier an den Herrn Hassknecht.

Ist der Wille da, aber alle Anstrengung gleichwohl vergebens, dann sind wohl wirklich einige Neuronen nicht passend verschaltet, dann ist die frühkindliche Prägezeit leider schon abgelaufen. Nehmen Sie es gelassen — sogar Linkshänder, die die linke für die rechte Hand nehmen - was ja wirklich nicht mit rechten Dingen zugeht -, werden in diesen Zeiten nicht mehr auf den Prügelbock gelegt.

Weitere widrige Wortgruppen

derselbe — der gleiche

sie tragen den gleichen Hut

das war derselbe Mann

gesinnt — gesonnen

ich bin ihm freundlich gesinnt [~ eingestellt]

sie sind in dieser Haltung gleichgesinnt und gleichermaßen gesonnen {Sanders, Seite 91}

ich bin nicht gesonnen [~ bereit, gewillt], weiter zu fabulieren

Bänder — Bände - Bande

sie trug bunte Bänder am Arm

das sprach aber Bände

Bande [~ Verbindung] der Freundschaft, in Banden [~ Fesseln,] liegen

Gesichter — Gesichte

die Stadt hat viele Gesichter, viele Gesichter kannte ich nicht

im Traum viele Gesichte [~ Erscheinung, Vision] haben

Schilder - Schilde

Straßenschilder aus Blech

Schutzschilde aus Holz

Tücher — Tuche

Tücher um die Schulter tragen

unterschiedliche Tuche [~ Stoffarten] im Angebot haben

Wörter — Worte

die Wörter des Satzes, Wörter aufzählen

die Macht der Worte, der Worte sind genug gewechselt,
aber: Sprichwörter

Literatur

Willy Sanders

Sprachkritikastereien
und was der „Fachler” dazu sagt

Wissenschaftliche Buchgesellschaft
Darmstadt, 1992

Gerhard Wahrig

Deutsches Wörterbuch

Mosaik Verlag
München, 1986